ORPHEUS’ ECHO

Eine Carolingische Klanglandschaft

English translationn see below

PER-SONAT
3 Sängerinnen, Marc Lewon (Karolingische Cythara, Leier, Gesang) Sabine Lutzenberger (Gesang, Leitung)

OREOPHONE

Durch seinen Gesang vermag Orpheus Götter, Menschen und wilde Tiere zu betören und sogar Steine zu erweichen. Völlig zu Recht gilt er seit der Antike und in der europäischen Musikgeschichte als personifiziertes Sinnbild für die Wirkungskraft des Klangs auf die Hörer. Orpheus ist zum Mythos geworden. Zum wissenschaftlich fundierten Verständnis, wie Musik auf die Psyche des Menschen wirkt, hat die neuere Gehirnforschung mit neurophysiologischen Methoden beigetragen. Der mittelalterliche Musiktheoretiker jedoch spricht von der Kraft der Musik, die im Verborgenen bleibt und die sich nicht messen lässt. Sie berührt die Menschen unmittelbar.

Die Geschichte von Orpheus und der Nymphe Eurydice berichtet, dass Gott Aristaeus der Gattin des Orpheus zugeneigt war und ihr nachstellte. Eurydice flüchtet, wird von einer Schlage gebissen und stirbt. Orpheus Klagegesang berührt die Götter, sie erlauben ihm, in die Unterwelt hinabzusteigen. Durch die alle Herzen berührende Ausdruckskraft seiner schönen Stimme gelingt es ihm beinahe, Eurydice aus der Unterwelt herauszuführen. Im Überschwang, die Geliebte dem Totenreich entreißen zu dürfen, vergisst er jedoch das Verbot, das ihm als Bedingung ihrer Rettung auferlegt wurde: er dreht sich nach ihr um und sie verschwindet für immer.

EINE karolingische Klanglandschaft

Dem Orpheus Mythos begegnen wir Ende des 9. Jahrhunderts in der Musica Enchiriadis, einem praktischen Handbuch zur Improvisation von Mehrstimmigkeit. Am Puls der Zeit, lehrt der unbekannte Verfasser seinen Scholares das Erfinden einer zweiten Stimme, und beschreibt, wie diese vox organalis, mit einer bereits vorgegebenen gregorianischen Choralmelodie, der vox principalis verschränkt werden kann. Durch das Hinzutreten der improvisierten zweiten Stimme entsteht ein neuer, noch nie dagewesener Klang. Das ist die Zeit der Geburt der Mehrstimmigkeit. Der Verfasser wählt Orpheus, diesen seit Menschengedenken unerreichten Meister der Sangeskunst, der Tote zum Leben zu erwecken wusste, als Vorbild für seine Schüler.

Lebendig wird der Orpheus-Mythos aber auch aus christlicher Sicht durch den Kirchenlehrer Augustinus, der Orpheus als poeta theologus bezeichnet und dessen Abstieg in die Unterwelt mit dem Abstieg Christi in das Totenreich vergleicht. Christus geht bei diesem mittelalterlichen Vergleich jedoch als Sieger hervor. Orpheus jedoch bleibt bis heute der Inbegriff für eine bislang unerhörte Stimme, die, dem Verstand trotzend, Menschen zu verzaubern und zu berühren weiß und in der Poesie des musikalischen Vortrags hörbar wird. In unserer Aufnahme haben wir versucht, der Aura der improvisierten Mehrstimmigkeit in ihrer frühesten notierten Form nachzuspüren.

Wie populär die Antikenrezeption im Mittelalter war, zeigen ab dem 9. Jahrhundert die Neumierungen der Oden des antiken Dichters Horaz. Den Oden wurden neu komponierte Melodien unterlegt und mit der damaligen Notenschrift, den Neumen, aufgeschrieben. So erleben wir Orpheus auch in diesen Gedichten, die von Kämpfen und Gräueltaten, von Seuchen und Verwüstung, aber auch in Liebeskämpfen der antiken Götterwelt, von Hirtinnen und Hirten, von Sterblichen und Unsterblichen erzählen. Für die Begleitung der Gesangsstimmen haben wir Instrumente der karolingischen Zeit gewählt, wie sie im Utrechter und Stuttgarter Psalter abgebildet sind. (Januar 2023, Sabine Lutzenberger)

Orpheus’ Echo

A Carolingian Soundscape

Through his singing, Orpheus is able to beguile gods, humans, and wild animals, and even to soften stones. Since ancient times as well as in the history of European music, without any doubt, he has been regarded as the personified symbol for the power of sound touching the listeners. Orpheus has become a myth. Recent research on neurophysiology has contributed to a sound understanding of how music affects the human psyche. For the medieval music theorists, however, the power of music remains hidden and cannot be measured. Music moves people instantly.

The story of both, Orpheus and the nymph Eurydice, tells us about the god Aristaeus who was fond of Orpheus' wife and pursued her. Eurydice flees, is bitten by a snake, and dies. Orpheus' lament touches the gods who allow him to descend to the underworld. Through the expressive power of his beautiful voice, touching all hearts, Orpheus almost succeeds in leading Eurydice out of the underworld. In his exuberance at being able to snatch his beloved from the realm of the dead, however, he forgets the prohibition on her rescue imposed on him: he turns around to face her and she disappears forever.

We discover the Orpheus Myth in the “Musica enchiriadis”, a practical manual for improvising polyphony, at the end of the 9th century. In touch with the latest innovations, the anonymous author teaches his scholars how to invent a second voice, the so called “vox organalis”, and how it can be interwoven with the given Gregorian Chant, the “vox principalis”. The addition of an improvised second voice creates a new sound, previously unheard. This is the time of the birth of polyphony. Orpheus, this unrivalled master of the art of singing, who was able to bring back the dead to life, has been chosen by the author as a model for the singers.

The Orpheus Myth also took on a Christian perspective through the teaching by St. Augustine, who calls him a “poeta theologus”, comparing his descent into the underworld with Christ’s descent into the realm of the dead.

Christ emerges victoriously in this medieval comparison. Orpheus, by contrast, remains to this day the epitome of a hitherto unheard voice which, defying mind, is able to enchant and touch people, audible in the lyrics of musical performance. With respect to our recording, we have tried to trace the aura of improvised polyphony in its earliest notated form.

The popularity of the reception of antiquity in the Middle Ages is shown by adding neumes to the poet Horace’s Odes from the 9th century onwards. Novel melodies were added to the Odes and written down using the notation of the time, the Neumes. And, we also experience Orpheus in these poems which tell of battles and atrocities, of plagues and devastation, and also of the wrangling over matters of love among the ancient gods, of shepherdesses and shepherds, of mortals and immortals. To accompany the singing voices, we have chosen instruments of the Carolingian period as depicted in the Utrecht Psalter and the Stuttgart Psalter.

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